Mittwoch 20. Juli
Also wie schläft man zu zweit in einem
Krankenhausbett, wenn man auch noch alle zwei Stunden aufgeweckt wird? -
Beschissen! Entsprechend gerädert sahen Mareike und ich wohl heute
Morgen aus, als sie entlassen wurde.
Soweit geht es Mareike gut, und die entlassende Ärztin
beruhigte uns, dass alles wieder spurlos verheilen werde. Danach wurde
sie aber persönlich, und empfahl Mareike dringend, ihren Vater
anzuzeigen.
Jedes Mal, wenn ich an diesen Arsch erinnert werde, oder
die Blessuren in Mareikes Gesicht sehe, kocht eine solche Wut in mir
hoch, dass ich am liebsten zu ihm fahren und ihm die Eier zu Matsch
treten will!
Für die Heimfahrt gönnte ich uns ein Taxi. Wir waren
beide ziemlich fertig, und ich wollte Mareike den Stress mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln nicht auch noch antun. Jetzt merkte ich
erst richtig, wie sehr Mareike der gestrige Tag mitgenommen hat. Sie
lehnte im Taxi in der Ecke und stierte durchs Fenster nach draußen. Als
ich dann auch noch eine Träne an ihrer Wange herunterlaufen sah, zog ich
sie auf den mittleren Sitz und nahm sie für die restliche Fahrt in den
Arm. Dabei konnte ich dann auch ihr zartes Wimmern hören.
Es tat mir weh, sie so zu sehen. Die letzten Wochen
war sie mein kleines, fröhliches Mädchen, aber jetzt war sie traurig und
still. Als ich sie fragte, was ihr durch den Kopf ging, meinte sie nur:
"Ich habe keine Familie mehr. Ich bin alleine.". Ich konterte gleich,
dass das nicht stimme und ich würde es ihr gleich beweisen. Zum Glück
waren wir da auch schon zu Hause, ich führte sie in die Wohnung und
gleich wurde sie von Andrea und Vanessa überfallen. Sie fielen ihr um
den Hals, sagten wie froh sie waren, dass ihr nichts Schlimmeres
passiert sei, und brachen mit ihr gemeinsam in Tränen aus.
"Siehst du?", sagte ich zu ihr, "Mag sein, dass deine
Erzeuger nichts mehr von dir wissen wollen, aber hier hast du eine
bessere Familie.". Frank drückte ihr eine große, dampfende Tasse ihres
Lieblingstees in die Hand und hieß sie willkommen, dann begleitete ich
sie in unser Zimmer, damit sie sich noch etwas erholen konnte.
Ich konnte nicht schlafen, legte mich aber neben sie
und streichelte ihr den Kopf, bis sie eingeschlafen war. Erst dann
konnte ich mich davonstehlen, um mit den Anderen zu reden.
Ein Glück, dass ich Vanessa habe. Sie hat im Labor
angerufen und die Lage geschildert. Noretzki hat mir den Rest der Woche
frei gegeben. Es sei momentan eh nichts los und er ist mit
Prüfungsvorbereitungen beschäftigt, die Anlage arbeitet gut, und die
restlichen Studenten kümmern sich eh schon um die Gewächsanlage. Klasse!
Dann wollten sie natürlich wissen, ob es noch
irgendwelche Diagnosen gab, oder ob es Mareike wirklich gut ging, aber
ich konnte sie beruhigen, soweit war alles in Ordnung. Sie klärten mich
dann auf, dass gestern die Polizei nicht mehr vorbei kam, weil sie alle
Hände voll zu tun hatten, und eh schon unterbesetzt waren. Als der am
Notruf fragte, ob akute Gefahr bestand und Andrea das verneinte, sollten
wir dann heute aufs Revier kommen, wenn wir Anzeige erstatten wollten.
Also schmiedeten wir Pläne, wann wir hingehen, was wir sagen, welchen
Anwalt wir nehmen und so weiter. Wir waren so damit beschäftigt, dass
wir nicht Mal merkten, dass Mareike plötzlich in der Tür stand und uns
zuhörte.
"NEIN!" war ihr konsequenter Einspruch zu all unseren
Plänen. "Nein, mit meinem alten Leben ist jetzt endgültig Schluss! Sie
wollen nicht mehr meine Eltern sein, ich will nicht mehr deren Tochter
sein. Ich will sie nie wieder sehen, auch nicht auf der Anklagebank vor
Gericht!". Jeder Versuch von Andrea und Vanessa, sie umzustimmen, war
vergebens und wurde schließlich abgeschmettert durch die Tatsache, dass
nur Mareike ihren Vater wegen Körperverletzung anklagen konnte und ohne
ihre Unterschrift gibt es keine Anklage. Die Diskussion war beendet.
Allerdings wollte sie so schnell wie möglich zu
"irgendeiner" Bank. Sie erklärte, dass sie einiges über die Jahre
beiseite gelegt habe, aber ihre Eltern seien bevollmächtigt. Sie
fürchtete, dass ihr Vater ihr das auch wegnehmen könnte, wenn sie es
nicht schnell sicherte.
Also verbrachten wir (sie bestand darauf, dass
Vanessa und ich auch mitkommen) den Nachmittag auf der nächsten Bank.
Formulare ausfüllen, Konten eröffnen, Formulare ausfüllen, Anträge
stellen, Formulare ausfüllen und Gelder übertragen. Hatte ich schon
"Formulare ausfüllen" erwähnt? Zum Glück musste Mareike die
Schreibarbeit ganz alleine übernehmen, aber schon das Zusehen war
nervig. Ein paar Stunden später war alles bei Mareikes neuer Bank in
Sicherheit und ihre alten Bankverbindungen alle gekündigt. Endlich sah
ich wieder ein erleichtertes Lächeln auf ihren Lippen.
"Ich möchte das feiern! Ich lade euch zu 'ner Pizza ein.
Keine Widerrede!", befahl sie danach. Mir war es gerade recht, der
Geschmack des Krankenhaus-Frühstücks schien mir noch immer im Mund zu
hängen, eine Pizza konnte das aber bestimmt ändern. "OK, ich zahle die
Getränke!", bestimmte ich und gerade als Mareike ansetzen wollte,
ergänzte ich: "Keine Widerrede.". Endlich konnten wir auch alle wieder
lachen.
Aber etwas stimmte noch immer nicht mit Mareike.
Immer wieder starrte sie traurig in die Leere und manchmal sah man auch,
wie ihre Augen feucht wurden. Vanessa fragte sie sanft, was los sei,
und sie schüttete schließlich ihr ganzes Herz aus. Sie erzählte, wie sie
aufwuchs, in einem strengen Elternhaus, in dem Liebe und Sexualität nie
erwähnt werden durften. Mit ihrer Mutter, die ihr schon früh
eintrichterte, dass Frauen gefälligst ihre Reize zu verhüllen hätten und
bis zur Ehe alle keusch bleiben sollten. Ihr Vater, der kaum einen
Fehler zuließ, ohne sofort eine Strafe zu verhängen. Sie waren nicht
religiös, im Gegenteil. Ihre Eltern waren aus der Kirche ausgetreten,
weil die Pfarrer nicht "züchtig" genug lebten und zu viel Liebe
predigten.
Im Laufe der Zeit hatten sie ihre eigene Ethik
entwickelt. Und die drehte sich meist darum, dass sie absolut richtig
lebten, und alle anderen Menschen total verkommene Tiere waren. Wenn man
in solch einem Haushalt aufwächst, nimmt man die Haltung irgendwann an.
Und so entstand die "alte" Mareike, die, die über alles meckerte, die
alles besser wusste und ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machte.
Während ihrer Schilderungen brach sie immer wieder in Tränen aus, bis selbst die Bedienung fragte: "Alles in Ordnung, Schätzchen?". Als sie Mareikes Gesicht sah, musste sie gleich noch nachhaken: "War er das?", und schaute mich kritisch an. Aber Mareike klärte sie auf, dass das "jemand anderes" war. Als Entschuldigung ließ sie es sich nicht nehmen, uns je eine Kugel Vanilleeis mit Erdbeersoße aus der Küche zu stibitzen (Mareike bekam zwei).
Plötzlich brach es aus ihr heraus und sie heulte wie
ein Schlosshund: "Erst hatte ich eine furchtbare Familie und nachdem sie
aus mir so eine furchtbare Person gemacht haben, lassen sie mich
allein!".
Vanessa war näher an ihr dran und nahm sie sofort in die
Arme. Ich konnte nur noch von hinten beide umarmen, während Vanessa die
Initiative ergriff: "Du bist nicht allein, spürst du das? Wir lieben
dich genauso wie du bist und scheiß auf deine alte Familie, du hast
jetzt eine neue, eine bessere. Weißt du was? Ich habe mir als Einzelkind
immer eine kleine Schwester gewünscht. Ich habe es niemandem gesagt,
aber die letzten Wochen habe ich dich immer mehr als meine kleine
Schwester gesehen. Wenn du willst, wäre ich stolz darauf, wenn du mich
jetzt Schwester nennst, Schwesterchen."
Mareike schniefte und schluchzte jetzt noch mehr: "Aber
Schwestern haben normalerweise keinen Sex miteinander.", sie zwang sich
ein Lächeln auf, als sie Vanessa in die Augen sah. "Scheiß drauf! Das
ist wahre Geschwisterliebe!", lächelte sie zurück. "Deine kleine
Schwester sein?", versicherte sich nochmals Mareike und Vanessa nickte
nur, "Aber nur, wenn du mich weiter Schwesterchen nennst!".
Beide begannen zu lachen und Vanessa gab ihr zur
Bestätigung einen langen Kuss, dann brachen beide in Freudentränen aus
und auch mir wurden die Augen feucht.
Wir aßen genüsslich unser Eis auf und gingen zur
Ablenkung danach noch bummeln. Der Vollständigkeit halber möchte ich
doch nochmal die Szenerie in der Fußgängerzone beschreiben, ehe sie für
mich ein solches Maß an Normalität erreicht hat, dass ich sie gar nicht
mehr wahrnehme:
Teilweise kam man sich vor wie in einem FKK-Bereich, nur Schuhe sind eine durchgängige Mode geblieben.
Bei den Straßenkünstlern führte das zu einem ganz neuen
Betätigungsfeld: Bodypainting. Also im Grunde wie Kinderschminken auf
Volksfesten, nur hier kann man sich wahlweise Kleidung oder Bilder auf
die Haut sprühen und malen lassen.
In den Seitengassen ist der Anblick von Pärchen (auch
gleichgeschlechtliche), die sich gerade gegenseitig verwöhnen, zur
Normalität geworden. Interessant, wie viele Positionen es im Stehen
gibt.
Schmuck wurde teilweise (meist bei den unbekleideten)
durch andere Accessoires ersetzt. Zum Halsschmuck gehören jetzt auch
massive Metallreifen und Lederhalsbänder. Manchmal schmaler, manchmal
breiter. Mit oder ohne Ring daran. Die Hand- und Fußgelenke zieren nun
auch Leder- oder Metallmanschetten, anstelle von leichten Kettchen. An
manchen Oberarmen finden sich Metallreifen mit kunstvollen Verzierungen.
Irgendwann kamen wir bei "Dominique Serva" vorbei.
War das neulich nicht noch ein kleines Lädchen? Anscheinend haben sie
die leere Ladenfläche daneben inzwischen auch gemietet und sich darin
ausgebreitet. Der Laden war proppevoll. Meine beiden Hübschen konnten
kaum daran vorbeilaufen und studierten intensiv die Schaufenster.
Mareike musste ich fast wegzerren.
Da fiel mir auch auf, dass die meisten Modeläden in der
Fußgängerzone inzwischen auch mindestens ein Schaufenster mit
eindeutigerer Kleidung und Accessoires ausgestattet hatten. Allerdings
lockten sie damit nicht so viel Kundschaft an.
Langsam wurde es dunkel, und als wir schließlich in der WG ankamen, gingen auch schon die Straßenlaternen an.
Vanessa und Mareike hatten den Abend ausgiebig ihre neue
Verwandschaftsbeziehung ausgekostet. Schwester hier, Schwesterchen da,
die Beiden waren einfach zu süß. Ich war gespannt, wie Andrea und Frank
wohl darauf reagieren würden. Ihre Reaktion war köstlich: beim ersten
"Schwesterchen" blickte Andrea nur kurz auf, als ob sie gerade etwas
gestochen hätte, der Schmerz aber gleich wieder vorbei war. Beim zweiten
Mal sah sie Vanessa an, als ob sie von einem anderen Stern käme. Beim
dritten Mal war sich Andrea sicher, dass sie wohl in ein anderes
Universum gefallen war und sie platzte heraus: "Was soll das dauernd mit
'Schwesterchen'?". Vanessa und Mareike kringelten sich vor Lachen,
klärten Andrea aber schließlich auf. "Verrückte Hühner!" meinte sie
darauf hin nur und schüttelte den Kopf.
Der Tag geht zu Ende, die Familie wächst immer enger
zusammen. Ich bin froh, dass wir bislang sprichwörtlich mit einem blauen
Auge davon gekommen sind. Ein Gedanke drängt sich mir heute Abend auf:
Vanessa scheint den Vorfall im Park überwunden zu haben, genauso wie
Mareike den gestrigen Tag. Kann das so schnell gehen? Auch ihre
Blessuren verschwinden erstaunlich schnell. Bei Vanessa ist fast nichts
mehr zu sehen. Waren da wieder die Allochondrien am Werk?
Wenn sie es waren, dann kann ich ihnen nur dankbar sein.
Meine beiden Liebsten sitzen mit Andrea und Frank in der
Küche und ziehen sich eine Komödie rein. Ich kann sie bis hier lachen
hören. Als ich aus der Küche ging, hatte sich Mareike eng an Vanessa
geschmiegt und ihren Kopf auf Vanessas Schulter gelegt. Ich versuche
jetzt mal, mich zwischen die Zwei zu quetschen um noch den Rest des
Films zu genießen. Nein, eigentlich möchte ich die Wärme meiner Liebsten
genießen. Ich hoffe nur, dass ich nicht schon in der Küche einschlafe.
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